Kinaesthetische Pflege als Gesundheitsentwicklungs- und Bildungsangebot

Pflegebedürftige Menschen erleben immer Einschränkungen in einzelnen Aktivitäten des täglichen Lebens, das heißt in ihrer eigenen aktiven Bewegung und somit in der selbständigen und selbst bestimmten Bewältigung ihres Alltags.

Dem Behandlungsparadigma verpflichtete Pflegende unterstützen Menschen in der besten Absicht, diesen in jeder Hinsicht Gutes angedeihen zu lassen. Die Annahme ist, dass Pflegebedürftige etwas nicht können. Das, was nicht gekonnt wird, übernimmt die Pflegeperson.

Kinaesthetische Pflege und Betreuung geht davon aus, dass unterstützungsbedürftige Personen etwas so, wie Gesunde es tun und wie sie selbst es vor der Erkrankung getan haben, nicht mehr tun können. Kinaesthetisch Pflegende bieten eine Hilfe an, die Hilfsbedürftige beim Entdecken und Erlernen von neuen Möglichkeiten bei der Durchführung von alltäglichen Aktivitäten unterstützt. Einfache Pflegearbeit wird dadurch zu einer hoch professionellen Gesundheits- und Bildungsarbeit. Selbstverständlich (im Sinn eines kybernetischen Lernverständnisses) liegt das Bildungsangebot dabei nicht im Erklären oder Zeigen oder gar im Belehren, sondern im feinfühligen Führen und Folgen und in der unterstützend-begleitenden körperlichen Hilfe.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Schon bei einem einfachen chirurgischen Eingriff in der Bauchdecke, mehr noch bei neurologischen Erkrankungen oder bei Beschwerden im Bewegungs- und Stützapparat, können Menschen ihr meist unbewusstes Bewegungsmuster, von der Liegeposition im Bett zum Sitzen und zum Stehen zu kommen, nicht mehr wie gewohnt durchführen. Haben sie wenig Erfahrung mit der Anpassung ihrer Bewegung an veränderte Gegebenheiten, so werden sie nach einem schmerzhaften oder überhaupt misslungenen Versuch Hilfe von einer Pflegeperson erwarten. Geht diese von der Annahme aus, dass Menschen unabhängig vom Alter oder der Schwere der Beeinträchtigung immer (lern)- fähig sind, sofern sie eine angemessene Umgebung und Unterstützung bekommen, so wird sie ihre Hilfe als Lernangebot gestalten. Sie wird zum Beispiel die Rückenlehne des Bettes flach stellen, um der liegenden Person, der sie vorher geholfen hat, die Beine anzubeugen, das Drehen in die Seitenlage zu erleichtern. Bei der anschließenden Gewichtsverlagerung von Kopf und Brustkorb auf die Ellbogen, Unterarme und Hände bis zum Sitzen wird sie die Person verbal, aber noch mehr durch klare aber nicht bestimmende Impulse begleiten und unterstützen.          

Der dadurch entstehende Lern- und Entwicklungsprozess bezieht sich gleichermaßen auf Helfende wie Hilfsbedürftige (siehe zirkulärer Wirkungszusammenhang zwischen Systemen). Auf Grund der Erkenntnis dieses Wirkungszusammenhanges ergibt sich logisch, dass Hilfestellung nie nach einem Schema, einem Patentrezept erfolgen kann. Die Pflegende muss jederzeit ihr Unterstützungsangebot so verändern, dass es dem unmittelbaren Bedarf angepasst ist. Ebenso logisch ergibt sich, dass kinaesthetische Pflege nicht von Diagnosen geleitet ist. Diagnosen können auch als Konstrukte angesehen werden, welche die Einschränkungen und Probleme, die sie beschreiben, erst produzieren.

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